Einblicke in mein Leben mit einer Angststörung

In letzter Zeit habe ich oft an meine 12 Jahre mit einer Angststörung gedacht. Und nachdem ich euch hier in einem anderen Beitrag schon geteasert hab und ich weiß, dass so viele davon betroffen sind, hab ich mich entschieden, euch meine Geschichte zu erzählen. Und diese Geschichte, also der Moment, ab dem ich mich gefragt habe, was mit meinem Körper los ist, begann im Herbst 2008. In der vorangehenden Zeit hatten wir ein neues Album produziert und aufgenommen, waren in verschiedenen Studios unterwegs gewesen und hatten mit unterschiedlichsten Produzenten zusammengearbeitet. Außerdem starb der Bruder einer meiner besten Freundinnen. Zudem gab es zwischenmenschliche Konflikte in meinem Arbeitsumfeld, die mich als sehr harmoniebedürftigen Menschen ziemlich belastet haben.

Währenddessen erlebte ich zum ersten Mal, dass ich nachts aufwachte und kleinere Panikattacken hatte. Der Gedanke, dass ein mir nahestehender Mensch sterben könnte, ließ Panik in mir aufsteigen. Und dann erinnere ich mich genau an dieses eine Konzert in Sachsen Anhalt. Wir hatten gerade mit dem 1. Lied begonnen, als ich merkte, dass ich dringend zur Toilette muss. Ich wunderte mich noch, dachte mir aber nicht viel dabei. Ich gab unserem Gitarristen, meinem Bruder, leise Bescheid, und verschwand zum stillen Örtchen. Dort stellte ich fest, dass ich zwar das Gefühl hatte, zur Toilette zu müssen, aber tatsächlich war das nicht der Fall. Ich ging zurück auf die Bühne und wenige Minuten später stellte sich das dringende Bedürfnis erneut ein. Soweit ich weiß, habe ich die Bühne kein weiteres Mal verlassen und konnte das Gefühl irgendwann ignorieren, indem ich mir sagte, dass ich mir das nur einbildete.
Was ich in diesem Moment jedoch noch nicht wusste, war die Tatsache, dass dieses Gefühl mich von nun an ständig begleiten würde, sobald ich nicht mehr die Freiheit hatte, jederzeit zur Toilette gehen zu können. Also während unserer Konzerte, während ich im Auto unterwegs war, während ich zu Fuß unterwegs war, usw. Also eigentlich immer – sobald ich nicht wusste, ob eine Toilette in der Nähe ist, bzw. wusste, dass KEINE Toilette in der Nähe ist, oder ich zum Beispiel auf der Bühne stand und deshalb nicht „weg“ konnte.

So begann meine Reise mit der Angststörung. Und jede Person, die selbst schon etwas Ähnliches erlebt hat, weiß, wie das Spielchen läuft. Am Anfang steht ein Gefühl, oder ein Erlebnis, woraus sich eine Angst entwickelt, die wiederum schnell zur Panik wird – und so entsteht eine Angst vor der Angst. Ein Teufelskreis.

Ich hatte also Angst vor der Angst. Wollte diese Angst nicht erleben. Deshalb entwickelte ich Strategien. Wenn ich wusste, dass eine längere Autofahrt anstand, weil wir zb ein Konzert hatten, aß und trank ich nichts. Ich wollte ja sichergehen, dass ich nicht zur Toilette muss. Und natürlich ging ich IMMER ganz kurz bevor wir losfuhren zur Toilette. Wenn sich die Abfahrt dann doch noch unerwartet verzögerte, musste ich dann zb 10 Minuten später erneut gehen. Leider waren aber all diese Maßnahmen dem Gefühl egal. So blieb nur noch ein Mittel: Ablenkung.
Ihr müsst wissen, dass ich sehr gerne lese. Besonders wenn ich Romane lese, tauche ich voll und ganz in diese andere Welt ein und habe kaum noch ein Bewusstsein für die reale Welt. 😊
Also packte ich Romane ein für die Fahrt. Trotz der Romane und allen anderen Vorbereitungen, waren die Angst und der innere Druck jedoch so groß, dass wir alle 30 Minuten anhalten mussten, damit ich zur Toilette gehen konnte. Und selbst die 30 Minuten waren eine Herausforderung für mich.

Angstörung beim Autofahren
Während unserer Dänemark Tour (hier im unserem Tourbus) hatte ich besonders zu kämpfen.

Unsere Band war so wichtig für mich, dass ich mich von meinen Ängsten nicht habe abhalten lassen, Musik zu machen, unterwegs zu sein und Konzerte zu spielen. Aber ich kann alle verstehen, die mit so einer Angststörung irgendwann einfach nur noch zuhause bleiben. Ich weiß nicht, ob eine Person, die so etwas noch nicht erlebt hat, nachvollziehen kann, wie viel Kraft es kostet, gegen diese Ängste vorzugehen, sie auszuhalten, und trotz allem halbwegs „normal“ weiterzuleben. Wenn ich heute daran zurückdenke, kann ich mir nicht vorstellen, dass ich jetzt noch die Kraft dafür hätte, diesen Kampf zu kämpfen:
Auf der einen Seite die Vorfreude auf jedes Konzert, jede Tour, jeden Urlaub und auf der anderen Seite die Angst. Angst vor der Angst. Vor Panikattacken.
Im Auto hatte ich, Gott sei Dank, nur einmal eine richtige Panikattacke. Aber da dachte ich echt: „Jetzt ist alles zu spät, jetzt geht‘s in die Hose.“ Und das in einem Auto, das nicht mal mir gehörte. Ich hab geschrien. Hatte solche Panik… Das war dann allerdings auch der Moment, in dem ich erlebte, was meine Psychologin versucht hatte mir klarzumachen: wenn du eine Panikattacke hast, ist dein Körper komplett angespannt. Wasserlassen kannst du allerdings (zumindest normalerweise) nur, wenn du dich ENTspannst. Deshalb nennt man dieses Vorgehen ja auch „sich erleichtern“.
Was war passiert? Nichts. Und als ich dann kurz später irgendwo hinter einem Busch saß, kam auch nichts. Ich war viel zu angespannt.

Während unserer Konzerte hatte ich allerdings immer wieder Panikattacken. Keine so exzessiven, wie die im Auto, aber schlimm genug. Irgendwie konnte ich mich dann doch immer, bevor es richtig extrem wurde, auf andere Gedanken bringen und mich auf die Musik fokussieren…
Trotzdem war es jedes Mal ein kleiner innerer Zusammenbruch. Etwas, das äußerlich niemand gesehen hat, aber das ich in diesem Moment ganz alleine durchleben und aushalten musste. Das Gefühl von TOTALEM Kontrollverlust. Das Gefühl von einem innerlichen endlosen Fall. Etwas, von dem man denkt, dass es wahnsinnig macht. Ein starker Fluchtreflex, dem ich nicht nachgehen konnte und wollte. Etwas, das unglaublich viel Energie raubt. – Irgendwann die Erleichterung, dass es vorbei ist. Aber auch die Angst, dass die Angst wiederkommt. Und ein Gefühl von Versagen. Weil ich diesem Gefühl, von dem ich wusste, dass es lügt, Raum gegeben hatte. So viel Raum, dass es mich in Panik versetzen konnte. Warum?
Und jeden Tag erneut die Angst und die Hoffnung, nicht wieder eine Panikattacke zu haben.

Falls du dich fragst, was ich dagegen unternommen habe:
Ich schätze, dass ich mindestens 6 Monate überhaupt nicht wusste, dass ich eine Angststörung habe und was das ist. Leider hat mir damals niemand gesagt: „Geh zum Psychologen!“. Ich hatte auch keine Ahnung, wie viele andere Menschen dieses Schicksal mit mir teilen. Ich dachte einfach, dass mein Körper spinnt und hoffte, dass er von selbst wieder damit aufhören würde.
Nachdem ich diese Angststörung ca ein Jahr hatte, habe ich mir dann endlich psychologische Hilfe gesucht. Die logischen Erklärungen, die ich oben schon erwähnte, waren durchaus hilfreich und die Abstände, in denen wir während der Autofahrten anhalten mussten, wurden deutlich länger. Ich musste mich auch nicht mehr ständig ablenken.

Trotzdem hatte ich immer noch diese Angststörung und es gab Tage, an denen hatte diese mich weiterhin in der Hand. Die Panikattacken waren nicht weg, aber deutlich seltener.

Ich fing an Sport zu machen, mich gesünder zu ernähren, mehr auf meinen Körper zu achten, mir mehr Pausen zu gönnen, achtsamer zu sein. Ich konnte mittlerweile wieder relativ normal leben, mit diversen Vorsichtsmaßnahmen. Allerdings gab es, wenn auch selten, trotzdem hin und wieder Tage, an denen die Angst plötzlich wieder präsent war und dann auch schnell zu einer Panikattacke wurde.

Irgendwann kamen meine Stimmprobleme. Es fing alles ganz langsam an und ich konnte es bestimmt 2 Jahre lang gut ignorieren. Aber dann kam der Moment, in dem ich es nicht mehr leugnen konnte, dass meine Stimme ein riesiges Problem hat. Damit wurde die Angst, dass meine Stimme versagt und ich schlecht singe, größer, als die Angst zur Toilette zu müssen.

Vorband von Mark Forster und Andreas Bourani
Als Vorband von Mark Forster und Andreas Bourani 2015. Hier verzögerte sich unser Konzert, da ich vor der Show zur Toilette musste und dann kaum mehr durch die mehreren tausend Menschen zur Bühne kam. Das Konzert an sich hat aber richtig Spaß gemacht.

Zusätzlich kamen andere Symptome auf, u.a. dass ich plötzlich ohnmächtig wurde. In diesem Moment merkte ich, dass ich aufpassen musste nicht eine weitere Angststörung zu entwickeln, nämlich die Angst davor ohnmächtig zu werden. Wenn ich die Erfahrung mit meiner ersten Angststörung nicht gehabt hätte, wäre das wahrscheinlich passiert. Aber so hatte ich irgendwie ein gutes Gefühl, wie ich dem Ganzen gegensteuern konnte, und habe, Gott sei Dank, keine zweite Angststörung entwickelt.

Ich fing dann an mit verschiedenen Methoden die Angststörung und die Angst vor meinem schlechten Gesang zu bekämpfen. Zum Beispiel, indem ich versuchte wieder positive Synapsen in meinem Kopf herzustellen, indem ich mir vorstellte unterwegs zu sein, oder ein Konzert zu haben und dabei nur positive Gefühle zu haben. Aber so gut diese Methode bestimmt grundsätzlich sein mag, in meinem Fall hat sie nicht wirklich geholfen, v.a. da meine Stimmprobleme leider Realität waren und nicht einfach mit positiven Synapsen wegzudenken waren. Ich hatte das Gefühl, dass die seelischen Belastungen immer stärker wurden und meine Kräfte immer mehr nachließen.

Die meisten von euch wissen ja, dass ich gläubig bin, dass mir mein Glaube wichtig ist und viel Halt gibt. Auch in diesen verzweifelten Situationen betete ich viel und auch andere beteten für mich und mit mir. Wir beteten und hofften, dass die Angststörung und die Panikattacken aufhören und dass meine Stimme wieder normal funktioniert. Gerade in der Zeit, in der es am schlimmsten war, war ich sehr verzweifelt und hab nicht verstanden, warum Gott mir nicht hilft. Ich hab ja vorhin schon geschrieben, dass ich mich auf der Bühne mit den Panikattacken ganz allein gefühlt hab…
Natürlich könnte man jetzt im Nachhinein sagen, dass ich alle diese Panikattacken überstanden habe, trotzdem weitergemacht habe, mir nicht die Kraft ausgegangen ist und ich auch keinen Nervenzusammenbruch hatte. Vielleicht ist das sogar ein Wunder…
Auf der anderen Seite weiß ich, dass ich zumindest im direkten Moment der Panikattacke überhaupt nicht das Gefühl hatte, dass ich getragen und gehalten bin. Ich fühlte mich einfach komplett allein und hilflos. Diese Momente gab und gibt es und sie sind einschneidend. Und ich habe auch keine Antwort, warum das so ist.
Falls es euch interessiert, könnt ihr in meinem Artikel „Die Theodizee-Wut“ nachlesen, warum ich trotzdem die Hoffnung und Gewissheit habe, dass ich in diesen Momenten nicht allein war, auch wenn ich es nicht gespürt habe.

Wie ging’s weiter? Nach 2 Jahren heftiger Symptome bekam ich ja schließlich die Diagnose Systemischer Lupus erythematodes. Kurz nach der Diagnose hatte ich noch ein Mal eine kleinere Panikattacke. Und dann ist die Angststörung irgendwie verschwunden. Ich kann euch auch nicht sagen, warum und wie. Aber Tatsache ist, dass ich jetzt seit bestimmt 4 Jahren eigentlich keine Probleme mehr habe. Selbst meine „Sicherheitsmaßnahmen“, die ich mir über die Jahre angewöhnt habe, also z.B. immer bevor ich irgendwohin gehe zur Toilette zur gehen, lasse ich teilweise weg. 😊
Ich bin wirklich extrem dankbar, weil ich irgendwann gar nicht mehr damit gerechnet hattee, dass das je wieder verschwindet. Und wenn ich jetzt unterwegs bin, dann freue ich mich manchmal riesig, dass ich wieder so entspannt sein kann und es mich keine Kraft mehr kostet, unbekanntes Gebiet zu erkunden.

Ich habe hier heute sehr offen meine Geschichte geteilt und hoffe, dass ich damit vielleicht manchen Leser*innen Hoffnung machen kann, und ihr euch verstanden und gesehen fühlt. Ich freue mich immer über Kommentare und Erfahrungen und Tipps. Vielleicht hilft dein Tipp ja jemand anderem weiter. 😊
Zum Schluss noch eine Frage, die mich beschäftigt: glaubt ihr eigentlich, dass Autoimmunerkrankungen oder andere chronische Erkrankungen irgendwie mit Angststörungen zusammenhängen? Oder wisst ihr vielleicht von Studien, die belegen, dass Personen mit Angststörungen leichter zb Autoimmunerkrankungen entwickeln – oder anders herum?

Vielen Dank für’s Lesen und bis bald.

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Ein Herzensprojekt

Das Thema Menschenhandel und Zwangsprostitution

Im Herbst 2013 hörte ich zum ersten Mal bewusst von Menschenhandel und Zwangsprostitution. Beziehungsweise hörte ich zum ersten Mal davon, dass auch hier in Deutschland – also direkt vor meiner Haustür – Menschen leben, die nach Deutschland verkauft oder gelockt wurden. Und jetzt arbeiten diese Menschen hier unter menschenunwürdigen Umständen und/oder werden zur Prostitution gezwungen.

Das hat mich hart getroffen und dieses Thema ließ mich nicht mehr los. Ich dachte viel darüber nach, was ich dagegen tun könnte. Ich sprach mit meinen Freundinnen und gestaltete Abende in unserer Jugendarbeit rund um das Thema. Ich suchte nach Informationen und teilte Aufklärungsvideos auf Facebook. Trotzdem hatte ich das Gefühl, doch mehr tun zu wollen… Ich hatte nur keine Ahnung wie!

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