Einblicke in mein Leben mit einer Angststörung

In letzter Zeit habe ich oft an meine 12 Jahre mit einer Angststörung gedacht. Und nachdem ich euch hier in einem anderen Beitrag schon geteasert hab und ich weiß, dass so viele davon betroffen sind, hab ich mich entschieden, euch meine Geschichte zu erzählen. Und diese Geschichte, also der Moment, ab dem ich mich gefragt habe, was mit meinem Körper los ist, begann im Herbst 2008. In der vorangehenden Zeit hatten wir ein neues Album produziert und aufgenommen, waren in verschiedenen Studios unterwegs gewesen und hatten mit unterschiedlichsten Produzenten zusammengearbeitet. Außerdem starb der Bruder einer meiner besten Freundinnen. Zudem gab es zwischenmenschliche Konflikte in meinem Arbeitsumfeld, die mich als sehr harmoniebedürftigen Menschen ziemlich belastet haben.

Währenddessen erlebte ich zum ersten Mal, dass ich nachts aufwachte und kleinere Panikattacken hatte. Der Gedanke, dass ein mir nahestehender Mensch sterben könnte, ließ Panik in mir aufsteigen. Und dann erinnere ich mich genau an dieses eine Konzert in Sachsen Anhalt. Wir hatten gerade mit dem 1. Lied begonnen, als ich merkte, dass ich dringend zur Toilette muss. Ich wunderte mich noch, dachte mir aber nicht viel dabei. Ich gab unserem Gitarristen, meinem Bruder, leise Bescheid, und verschwand zum stillen Örtchen. Dort stellte ich fest, dass ich zwar das Gefühl hatte, zur Toilette zu müssen, aber tatsächlich war das nicht der Fall. Ich ging zurück auf die Bühne und wenige Minuten später stellte sich das dringende Bedürfnis erneut ein. Soweit ich weiß, habe ich die Bühne kein weiteres Mal verlassen und konnte das Gefühl irgendwann ignorieren, indem ich mir sagte, dass ich mir das nur einbildete.
Was ich in diesem Moment jedoch noch nicht wusste, war die Tatsache, dass dieses Gefühl mich von nun an ständig begleiten würde, sobald ich nicht mehr die Freiheit hatte, jederzeit zur Toilette gehen zu können. Also während unserer Konzerte, während ich im Auto unterwegs war, während ich zu Fuß unterwegs war, usw. Also eigentlich immer – sobald ich nicht wusste, ob eine Toilette in der Nähe ist, bzw. wusste, dass KEINE Toilette in der Nähe ist, oder ich zum Beispiel auf der Bühne stand und deshalb nicht „weg“ konnte.

So begann meine Reise mit der Angststörung. Und jede Person, die selbst schon etwas Ähnliches erlebt hat, weiß, wie das Spielchen läuft. Am Anfang steht ein Gefühl, oder ein Erlebnis, woraus sich eine Angst entwickelt, die wiederum schnell zur Panik wird – und so entsteht eine Angst vor der Angst. Ein Teufelskreis.

Ich hatte also Angst vor der Angst. Wollte diese Angst nicht erleben. Deshalb entwickelte ich Strategien. Wenn ich wusste, dass eine längere Autofahrt anstand, weil wir zb ein Konzert hatten, aß und trank ich nichts. Ich wollte ja sichergehen, dass ich nicht zur Toilette muss. Und natürlich ging ich IMMER ganz kurz bevor wir losfuhren zur Toilette. Wenn sich die Abfahrt dann doch noch unerwartet verzögerte, musste ich dann zb 10 Minuten später erneut gehen. Leider waren aber all diese Maßnahmen dem Gefühl egal. So blieb nur noch ein Mittel: Ablenkung.
Ihr müsst wissen, dass ich sehr gerne lese. Besonders wenn ich Romane lese, tauche ich voll und ganz in diese andere Welt ein und habe kaum noch ein Bewusstsein für die reale Welt. 😊
Also packte ich Romane ein für die Fahrt. Trotz der Romane und allen anderen Vorbereitungen, waren die Angst und der innere Druck jedoch so groß, dass wir alle 30 Minuten anhalten mussten, damit ich zur Toilette gehen konnte. Und selbst die 30 Minuten waren eine Herausforderung für mich.

Angstörung beim Autofahren
Während unserer Dänemark Tour (hier im unserem Tourbus) hatte ich besonders zu kämpfen.

Unsere Band war so wichtig für mich, dass ich mich von meinen Ängsten nicht habe abhalten lassen, Musik zu machen, unterwegs zu sein und Konzerte zu spielen. Aber ich kann alle verstehen, die mit so einer Angststörung irgendwann einfach nur noch zuhause bleiben. Ich weiß nicht, ob eine Person, die so etwas noch nicht erlebt hat, nachvollziehen kann, wie viel Kraft es kostet, gegen diese Ängste vorzugehen, sie auszuhalten, und trotz allem halbwegs „normal“ weiterzuleben. Wenn ich heute daran zurückdenke, kann ich mir nicht vorstellen, dass ich jetzt noch die Kraft dafür hätte, diesen Kampf zu kämpfen:
Auf der einen Seite die Vorfreude auf jedes Konzert, jede Tour, jeden Urlaub und auf der anderen Seite die Angst. Angst vor der Angst. Vor Panikattacken.
Im Auto hatte ich, Gott sei Dank, nur einmal eine richtige Panikattacke. Aber da dachte ich echt: „Jetzt ist alles zu spät, jetzt geht‘s in die Hose.“ Und das in einem Auto, das nicht mal mir gehörte. Ich hab geschrien. Hatte solche Panik… Das war dann allerdings auch der Moment, in dem ich erlebte, was meine Psychologin versucht hatte mir klarzumachen: wenn du eine Panikattacke hast, ist dein Körper komplett angespannt. Wasserlassen kannst du allerdings (zumindest normalerweise) nur, wenn du dich ENTspannst. Deshalb nennt man dieses Vorgehen ja auch „sich erleichtern“.
Was war passiert? Nichts. Und als ich dann kurz später irgendwo hinter einem Busch saß, kam auch nichts. Ich war viel zu angespannt.

Während unserer Konzerte hatte ich allerdings immer wieder Panikattacken. Keine so exzessiven, wie die im Auto, aber schlimm genug. Irgendwie konnte ich mich dann doch immer, bevor es richtig extrem wurde, auf andere Gedanken bringen und mich auf die Musik fokussieren…
Trotzdem war es jedes Mal ein kleiner innerer Zusammenbruch. Etwas, das äußerlich niemand gesehen hat, aber das ich in diesem Moment ganz alleine durchleben und aushalten musste. Das Gefühl von TOTALEM Kontrollverlust. Das Gefühl von einem innerlichen endlosen Fall. Etwas, von dem man denkt, dass es wahnsinnig macht. Ein starker Fluchtreflex, dem ich nicht nachgehen konnte und wollte. Etwas, das unglaublich viel Energie raubt. – Irgendwann die Erleichterung, dass es vorbei ist. Aber auch die Angst, dass die Angst wiederkommt. Und ein Gefühl von Versagen. Weil ich diesem Gefühl, von dem ich wusste, dass es lügt, Raum gegeben hatte. So viel Raum, dass es mich in Panik versetzen konnte. Warum?
Und jeden Tag erneut die Angst und die Hoffnung, nicht wieder eine Panikattacke zu haben.

Falls du dich fragst, was ich dagegen unternommen habe:
Ich schätze, dass ich mindestens 6 Monate überhaupt nicht wusste, dass ich eine Angststörung habe und was das ist. Leider hat mir damals niemand gesagt: „Geh zum Psychologen!“. Ich hatte auch keine Ahnung, wie viele andere Menschen dieses Schicksal mit mir teilen. Ich dachte einfach, dass mein Körper spinnt und hoffte, dass er von selbst wieder damit aufhören würde.
Nachdem ich diese Angststörung ca ein Jahr hatte, habe ich mir dann endlich psychologische Hilfe gesucht. Die logischen Erklärungen, die ich oben schon erwähnte, waren durchaus hilfreich und die Abstände, in denen wir während der Autofahrten anhalten mussten, wurden deutlich länger. Ich musste mich auch nicht mehr ständig ablenken.

Trotzdem hatte ich immer noch diese Angststörung und es gab Tage, an denen hatte diese mich weiterhin in der Hand. Die Panikattacken waren nicht weg, aber deutlich seltener.

Ich fing an Sport zu machen, mich gesünder zu ernähren, mehr auf meinen Körper zu achten, mir mehr Pausen zu gönnen, achtsamer zu sein. Ich konnte mittlerweile wieder relativ normal leben, mit diversen Vorsichtsmaßnahmen. Allerdings gab es, wenn auch selten, trotzdem hin und wieder Tage, an denen die Angst plötzlich wieder präsent war und dann auch schnell zu einer Panikattacke wurde.

Irgendwann kamen meine Stimmprobleme. Es fing alles ganz langsam an und ich konnte es bestimmt 2 Jahre lang gut ignorieren. Aber dann kam der Moment, in dem ich es nicht mehr leugnen konnte, dass meine Stimme ein riesiges Problem hat. Damit wurde die Angst, dass meine Stimme versagt und ich schlecht singe, größer, als die Angst zur Toilette zu müssen.

Vorband von Mark Forster und Andreas Bourani
Als Vorband von Mark Forster und Andreas Bourani 2015. Hier verzögerte sich unser Konzert, da ich vor der Show zur Toilette musste und dann kaum mehr durch die mehreren tausend Menschen zur Bühne kam. Das Konzert an sich hat aber richtig Spaß gemacht.

Zusätzlich kamen andere Symptome auf, u.a. dass ich plötzlich ohnmächtig wurde. In diesem Moment merkte ich, dass ich aufpassen musste nicht eine weitere Angststörung zu entwickeln, nämlich die Angst davor ohnmächtig zu werden. Wenn ich die Erfahrung mit meiner ersten Angststörung nicht gehabt hätte, wäre das wahrscheinlich passiert. Aber so hatte ich irgendwie ein gutes Gefühl, wie ich dem Ganzen gegensteuern konnte, und habe, Gott sei Dank, keine zweite Angststörung entwickelt.

Ich fing dann an mit verschiedenen Methoden die Angststörung und die Angst vor meinem schlechten Gesang zu bekämpfen. Zum Beispiel, indem ich versuchte wieder positive Synapsen in meinem Kopf herzustellen, indem ich mir vorstellte unterwegs zu sein, oder ein Konzert zu haben und dabei nur positive Gefühle zu haben. Aber so gut diese Methode bestimmt grundsätzlich sein mag, in meinem Fall hat sie nicht wirklich geholfen, v.a. da meine Stimmprobleme leider Realität waren und nicht einfach mit positiven Synapsen wegzudenken waren. Ich hatte das Gefühl, dass die seelischen Belastungen immer stärker wurden und meine Kräfte immer mehr nachließen.

Die meisten von euch wissen ja, dass ich gläubig bin, dass mir mein Glaube wichtig ist und viel Halt gibt. Auch in diesen verzweifelten Situationen betete ich viel und auch andere beteten für mich und mit mir. Wir beteten und hofften, dass die Angststörung und die Panikattacken aufhören und dass meine Stimme wieder normal funktioniert. Gerade in der Zeit, in der es am schlimmsten war, war ich sehr verzweifelt und hab nicht verstanden, warum Gott mir nicht hilft. Ich hab ja vorhin schon geschrieben, dass ich mich auf der Bühne mit den Panikattacken ganz allein gefühlt hab…
Natürlich könnte man jetzt im Nachhinein sagen, dass ich alle diese Panikattacken überstanden habe, trotzdem weitergemacht habe, mir nicht die Kraft ausgegangen ist und ich auch keinen Nervenzusammenbruch hatte. Vielleicht ist das sogar ein Wunder…
Auf der anderen Seite weiß ich, dass ich zumindest im direkten Moment der Panikattacke überhaupt nicht das Gefühl hatte, dass ich getragen und gehalten bin. Ich fühlte mich einfach komplett allein und hilflos. Diese Momente gab und gibt es und sie sind einschneidend. Und ich habe auch keine Antwort, warum das so ist.
Falls es euch interessiert, könnt ihr in meinem Artikel „Die Theodizee-Wut“ nachlesen, warum ich trotzdem die Hoffnung und Gewissheit habe, dass ich in diesen Momenten nicht allein war, auch wenn ich es nicht gespürt habe.

Wie ging’s weiter? Nach 2 Jahren heftiger Symptome bekam ich ja schließlich die Diagnose Systemischer Lupus erythematodes. Kurz nach der Diagnose hatte ich noch ein Mal eine kleinere Panikattacke. Und dann ist die Angststörung irgendwie verschwunden. Ich kann euch auch nicht sagen, warum und wie. Aber Tatsache ist, dass ich jetzt seit bestimmt 4 Jahren eigentlich keine Probleme mehr habe. Selbst meine „Sicherheitsmaßnahmen“, die ich mir über die Jahre angewöhnt habe, also z.B. immer bevor ich irgendwohin gehe zur Toilette zur gehen, lasse ich teilweise weg. 😊
Ich bin wirklich extrem dankbar, weil ich irgendwann gar nicht mehr damit gerechnet hattee, dass das je wieder verschwindet. Und wenn ich jetzt unterwegs bin, dann freue ich mich manchmal riesig, dass ich wieder so entspannt sein kann und es mich keine Kraft mehr kostet, unbekanntes Gebiet zu erkunden.

Ich habe hier heute sehr offen meine Geschichte geteilt und hoffe, dass ich damit vielleicht manchen Leser*innen Hoffnung machen kann, und ihr euch verstanden und gesehen fühlt. Ich freue mich immer über Kommentare und Erfahrungen und Tipps. Vielleicht hilft dein Tipp ja jemand anderem weiter. 😊
Zum Schluss noch eine Frage, die mich beschäftigt: glaubt ihr eigentlich, dass Autoimmunerkrankungen oder andere chronische Erkrankungen irgendwie mit Angststörungen zusammenhängen? Oder wisst ihr vielleicht von Studien, die belegen, dass Personen mit Angststörungen leichter zb Autoimmunerkrankungen entwickeln – oder anders herum?

Vielen Dank für’s Lesen und bis bald.

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Inklusion in Freundschaften

„Geht es dir wieder gut?“
Oder wie ich chronisch Kranke (und andere Leidende) unterstützen kann.

Hast du dich schon einmal überfordert gefühlt, weil eine wichtige Person in deinem Leben plötzlich eine unheilbare Krankheit diagnostiziert bekommen hat, oder einen geliebten Menschen verloren hat? Wie gehe ich mit so einer Situation um? Was sage ich? Wie kann ich helfen? Und zwar am Besten ohne diese Person zu verletzen? Wie kann ich vermitteln, dass ich für sie da sein will? …

Alles schwierige Fragen, die total berechtigt sind und die wahrscheinlich jeder Mensch, dem es gerade schlecht geht und den man fragen würde, unterschiedlich beantworten würde.
Trotzdem glaube ich, dass es es ein paar grundsätzliche Tipps gibt, die ich in diesem Beitrag gerne ansprechen will.

Ich erinnere mich an meine erste Zeit im Krankenhaus und an die Monate danach. In den ersten Wochen gab es unglaublich viel Anteilnahme von allen Freund*innen und Bekannten. Ich bekam sehr viel Besuch und unzählig viele Geschenke und Karten, liebe Worte, Nachrichten und Anrufe. Das Alles hat mir natürlich richtig gut getan und mir durch die Zeit im Krankenhaus geholfen.
Dann wurde ich entlassen und ich erwartete selbst, dass es mir innerhalb weniger Wochen wieder gut gehen würde – die Medikamente würden bestimmt helfen und dann würde es mir bald wieder richtig gut gehen. Die Symptome, die ich seit Jahren hatte, hatten ja jetzt endlich eine Ursache und sollten mit der Wirkung der Medikamente verschwinden.
Weiterhin fragten viele meiner Freunde regelmäßig nach, wie es mir ginge. Anfangs war es ein Auf und Ab, aber wir warteten alle auf den Moment, an dem meine Antwort endlich „sehr gut“ sein würde. Je länger sich dieser Moment hinauszögerte und je mehr ich selbst realisierte, dass eventuell doch nicht so schnell „alles wieder gut“ sein würde, desto weniger wurde ich auch nach meinem Wohlergehen gefragt. Das ist ganz natürlich! Je länger etwas geht und je weniger es Aussicht auf Verbesserung gibt, desto weniger wissen wir, wie wir positiv reagieren können, wie wir Hoffnung vermitteln sollen und was wir überhaupt sagen sollen.

Und bitte versteht das jetzt nicht falsch: ich bin wirklich niemandem böse! Ich weiß selbst, wie unsicher ich mich in solchen Situationen gefühlt habe. Als der große Bruder einer meiner besten Freundinnen tödlich verunglückte, war ich total überfordert. Ich wollte für sie da sein, war aber genau in dieser Zeit mit meiner Band unterwegs. Deshalb versuchte ich sie regelmäßig anzurufen, um ihr zu zeigen, dass sie mir wichtig ist. Ich wusste aber nicht, was ich sagen sollte, wie ich ihr Kraft und Hoffnung und Trost geben sollte. Und durch das beschissene Telefon konnte ich sie ja auch nicht einfach in den Arm nehmen! Ich hab keine Ahnung mehr, was ich damals gestammelt hab. Ich hab keine Ahnung, ob ich nicht ganz viel dummes Zeug gesagt hab, und ihr am Ende mehr geschadet hab, als ihr zu helfen… Ich weiß eigentlich nur, dass es mein großer Wunsch war, dass es ihr ganz bald wieder gut geht. Oder zumindest besser. Aber vielleicht war genau das auch ein Problem! Trauernde brauchen Zeit zum Trauern, zum Weinen und traurig sein. Und zwar genug Zeit – so viel Zeit, wie sie benötigen.

In dieser Hinsicht geht es chronisch Kranken und Trauernden vielleicht ähnlich. Chronisch Kranke trauern nämlich in gewisser Weise auch: um ihre Gesundheit. Und vielleicht um das Leben, das sie nicht mehr so weiterführen können, wie bisher. Auch sie benötigen Zeit, um das zu realisieren, sacken zu lassen und damit klar zu kommen. Und natürlich wünscht sich jeder, wünschen wir uns alle, dass es unseren Lieben so bald wie möglich wieder gut geht. Das ist auch gut so! Aber es ist auch wichtig zu vermitteln, dass es ok ist, wenn es der betroffenen Person nicht gut geht. Auch wenn es ihr wirklich lange nicht gut geht!

Und damit soll es auch endlich konkret werden. Hier ein paar Punkte, die bei einer Freundschaft mit chronisch Kranken helfen können:

  1. Die Bereitschaft für diese Person da zu sein
    Diese Bereitschaft kannst du nur vermitteln, indem du in Verbindung bleibst! Zum Beispiel, indem du anrufst oder dich auf eine andere Art und Weise meldest und immer wieder Anteil und Interesse zeigst. Es ist also natürlich extrem kontraproduktiv, sich zurückzuziehen und sich nicht mehr zu melden, auch wenn du dich überfordert fühlst, oder Angst hast jemanden zu verletzen. Denn ich glaube, dass Freund*innen, die in irgendeiner Weise leiden, gern mal Fehler und Tritte ins Fettnäpfchen verzeihen, gerade wenn sie merken, dass sie dir wirklich wichtig sind. Ich bin mir sicher, dass das auch dann der Fall ist, wenn sie sich durch eine Aussage von dir sehr verletzt fühlen. In diesem Fall unbedingt Punkt 2 beachten:
     
  2. Redet offen miteinander
    Wie in jeder anderen Beziehung ist es wichtig, offen miteinander zu reden. So kannst du in Situationen, in denen du einfach nicht weißt, was du sagen oder machen sollst, ganz ehrlich gestehen: „Ich weiß jetzt überhaupt nicht, was ich dazu sagen soll. Wie ich dich vielleicht trösten könnte.“ Dieser Satz kann sogar das Beste sein, was du sagen kannst! Vielleicht weiß die leidende Person in diesem Moment selbst nicht, was sie sagen soll oder von dieser Situation halten soll und fühlt sich damit verstanden.
    Oder frage nach: „Was wünschst du dir jetzt? Gibt es irgendetwas, womit ich dir helfen kann, oder dir eine Freude machen kann?“
    Außerdem ist es wichtig, dass du offen dafür bist, dass Betroffene dir sagen dürfen, inwieweit deine Aussagen oder Handlungen verletzend waren.
    Auf der anderen Seite musst du auch acht auf dich selbst geben! Gerade Menschen, die ein feines Gespür dafür haben, wie es anderen geht, und welche Bedürfnisse sie haben, können schnell in einen Sog der „aufopfernden Bezugsperson“ kommen. Das führt oft dazu, dass man das Gefühl hat für die betroffene Person verantwortlich zu sein, weil es der ja so schlecht geht, und man alles tun muss, um ihr zu helfen. In diesem Eifer gibt man alles für den mir wichtigen Menschen, ohne eigne Grenzen und Bedürfnisse zu beachten und zu respektieren. Solche Situationen führen dann leider oft zum (jähen und umso schmerzhafteren) Ende der Freundschaft, wenn der/die aufopfernde Freund*in die Last irgendwann nicht mehr tragen kann. Es ist also wichtig zu kommunizieren, wenn dir etwas zu viel wird, wenn du Zeit für dich brauchst, wenn du irgendwelche Wünsche nicht erfüllen kannst oder Hilfen nicht leisten kannst.
    Wir sind alle Menschen, die Fehler machen und Bedürfnisse und Grenzen haben. Gerade deshalb ist es wichtig, genau darüber zu reden, Verständnis zu zeigen und gnädig mit anderen und sich selbst zu sein!
     
  3. Zuhören und Mitgefühl zeigen, anstatt Tipps zu geben
    Wenn dir die betroffene Person ihr Leid klagt, braucht sie in den wenigsten Fällen Tipps, wie man dieses Leid lindern könnte. Wenn dir also jemand erzählt, dass er oder sie Rückenschmerzen hat, will die Person höchstwahrscheinlich nicht hören, ob sie schon probiert habe, ihre Rückenmuskulatur zu stärken o.ä.. Meistens wurde schon alles (Un-)Mögliche versucht, um das Leid zu lindern.
    Gerade in frommen Kreisen wird gerne gefragt, ob man schon gebetet hätte und daraufhin doch bestimmt eine Besserung eingetreten sein müsste. So nett diese Fragen auch gemeint sind, würde ich dringend raten darauf zu verzichten, da sie eher ein Gefühl von Versagen vermitteln, als hilfreich zu sein. Was natürlich nicht heißt, dass du deine Freund*innen nicht in deine Gebete einschließen darf!
    Dann gibt es allerdings noch die Menschen (zu denen ich auch gehöre), die aufpassen müssen, dass sie das Leid von Freunden nicht zu ihrem eigenen Leid machen. Natürlich dürfen und sollen wir Mitgefühl zeigen und Leidende auf ihrem Weg unterstützen. Aber wenn man dann so sehr unter der Situation leidet, als ob man selbst betroffen wäre, geht das eindeutig zu weit! In diesem Fall kann man auch keine Hilfe mehr sein. Wenn du also sehr sensibel bist und mit anderen tief mitfühlst, musst du dringend auf deine Seele achten, die eigenen emotionalen Grenzen akzeptieren, und aufpassen, dass du dich nicht zu sehr mit den Gefühlen der kranken Person identifizierst.
     
  4. „Willst du darüber sprechen, wie es dir geht?“
    An manchen Tagen sind chronisch Kranke einfach überfordert. Überfordert von irgendwelchen Symptomen, von diffusen Gefühlen, oder sie haben schlicht keine Kraft darüber zu sprechen, wie es ihnen geht. Deshalb ist es oft besser zu fragen, ob die Betroffenen überhaupt über ihr Befinden sprechen wollen, oder in diesem Moment eher nicht. Falls sie das nicht wollen, ist es vielleicht eine gute Idee, sich ein „Ablenkungsmanöver“ zu überlegen. Wobei wir beim nächsten Punkt wären:
     
  5. Miteinander Lachen
    Manchmal ist die beste und schönste Hilfe für einen Menschen von seinen Sorgen, Ängsten oder Schmerzen abgelenkt zu werden. Dafür gibt es natürlich viele Möglichkeiten: zusammen einen lustigen Film schauen, an frühere lustige und schöne Momente denken (zB indem man gemeinsam Fotos anschaut), irgendwas verrücktes Neues ausprobieren, Pyjama Party, Beauty Night mit Gesichtsmasken, gegenseitige Massagen, Nägel lackieren… (Keine Ahnung, was das männliche Pendant dazu wäre ;)). Oder auch gemeinsam Pizza bestellen, zu einem Whiskey-Tasting gehen (falls Alkohol ok ist), oder selber eines machen, bzw. wahrscheinlich gibt es mittlerweile auch irgendwelche virtuellen Tastings :). Eine weitere Möglichkeit wäre ein schöner Ausflug, falls das kräftemäßig drin ist, bzw. zu versuchen den Ausflug so zu organsieren (mit Rollstuhl o.ä.), dass die kranke Person ohne große Anstrengung daran teilhaben kann. Mit etwas Kreativität kann man auf viele gute Ideen kommen.
    Ich muss hier allerdings anmerken, dass du dir immer bewusst sein musst, dass Verabredungen oder Ausflüge schnell zu viel und zu anstrengend für chronisch Kranke werden können. Das bedeutet, dass es wichtig ist, flexibel zu sein, auch wenn man einen schönen Ausflug aufwendig geplant hat, ihn auf einen späteren Termin verschieben zu können. Somit wissen die Betroffenen, dass es nicht schlimm wäre, falls es am vereinbarten Termin dann doch nicht klappen sollte, weil es ihnen einfach zu schlecht geht. Alternativ könnte man dann einfach leckeres Essen bestellen und einen gemütlichen Abend Zuhause verbringen, oder (je nachdem, wie es um die Person steht) telefonieren, oder einfach ein gutes Essen vorbei bringen und einen warmen Tee o.ä. ans Bett oder Sofa stellen, was eine besonders große Hilfe ist, wenn die Betroffenen allein leben.
Gemeinsame verrückte Aktionen sind wie Schätze! Dieses Erlebnis mit „meinen Ladies“ zaubert mir auch nach über 10 Jahren noch ein Lächeln ins Gesicht.

Das waren jetzt viele Gedanken und Anregungen und ich hoffe, dass du dich nicht überfordert fühlst, sondern neue Motivation bekommen hast, deine Freundschaften mit Kranken oder Trauernden zu pflegen.
Meine Anregungen sollen keine Angst machen, sondern Tipps und Hilfen sein, gerade in Situationen, ich denen du vielleicht gerade nicht weißt, was du tun sollst.

Um es noch einmal zu betonen: am wichtigsten ist es, dich zu melden und Kontakt zu halten und offen und ehrlich miteinander zu reden. Dann muss man auch keine Angst davor haben, Fehler zu machen, oder sich gegenseitig zu über- oder unterfordern. 🙂

Zum Schluss möchte ich noch ein paar Anregungen geben, wie so ein „Kontakt halten“ konkret aussehen könnte:

  • einfach mal anrufen und fragen, wie der Tag war und ob die Person darüber reden möchte, wie es ihr geht
  • nach einem Arzttermin nachfragen, wie es war
  • falls man andere Betroffene mit ähnlichen Problemen kennt, Kontakte herstellen (natürlich nur, falls gewünscht :))
  • kleine Geschenke, wie eine Karte oder etwas Leckeres, was den Betroffenen schmeckt, machen immer Freude
  • nach einer Einladung beim Aufräumen und Abspülen helfen
  • Ermutigung: Sage Betroffenen, was du an ihnen schätzt und magst. Sie bekommen durch viele Einschränkungen und teilweise wenige Kontakte oft kaum Anerkennung und Wertschätzung.

Und die folgende Punkte sind besonders wichtig für Betroffene, die alleine leben:

  • anbieten Einkäufe zu übernehmen
  • Mitfahrmöglichkeiten anbieten
  • Hilfe im Haushalt anbieten
  • Unterlagen von Behörden und Ärzten/Krankenkassen gemeinsam durchgehen

Diese Kontakt-Ideen und weitere Inspirationen für diesen Artikel habe ich übrigens aus dem Buch „Wie ein Schmetterling im Käfig. Perspektiven für ein Leben mit chronischer Krankheit.“ von Frauke Bielefeld, das ich sehr empfehlen kann. Es ist hauptsächlich für chronisch Kranke geschrieben, aber auch teilweise an deren Familien und Freunde, sowie Therapeuten und Ärzte gerichtet. Es gibt einen sehr guten und ehrlichen Einblick in das Leben einer chronisch Kranken und viele praktische Hilfestellungen in Hinsicht auf alle möglichen Bedürfnisse, die ein Mensch haben kann und hat somit einen sehr ganzheitlichen Ansatz.

Damit komme ich auch zum Ende und freue mich über Kommentare mit Ideen von dir, was man noch alles machen kann, um chronisch Kranke zu unterstützen, bzw. was du, als Betroffene/r, dir von deiner Familie und deinen Freunden wünschst. Oder berichte gerne auch von schönen Erlebnissen, die du zu diesem Thema hattest.

In diesem Sinne: lasst uns Inklusion leben und
stay connected and spread the love! <3

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